Die Masern, die Impfpflicht, die Taliban und der Balkan

In Berlin sind Medienberichten zufolge über 650 Menschen an Masern erkrankt. Ein Kleinkind starb. Recherchiert man weiter, erfährt man, dass die Masern in Berlin angeblich aus dem Balkan eingeschleppt wurden. Demnach nahm die Epidemie ihren Anfang im Oktober vergangenen Jahres in einem Berliner Flüchtlingsheim. So liest man es in mehreren deutschen Blättern. In Online-Ausgaben ist diese Herleitung teilweise bereits wieder verschwunden. Eh klar, warum.

Im Februar und März 2013 brachen im Raum Kitzbühel die Masern unter Kindern von Eltern aus, die erklärte Impfgegner waren. Über diese Impfgegner wiederum ist aus befugten Mündern zu erfahren, dass gerade bei Personen mit hohem Bildungsniveau eine große Skepsis gegenüber Impfungen verbreitet ist.

Seit Tagen wogen daher in unseren Breiten heftige Diskussionen über eine etwaige Impfpflicht angesichts steigender Impfskepsis bzw. -verweigerung.

Anders sieht die Sache in Pakistan aus. Dort wird eher weniger diskutiert.

Dort verweigern sich Bevölkerungsteile auch den Impfungen. Gerade eben gegen Polio. Folge ist ein Anstieg der Erkrankungen um 93 Prozent. Das ist nicht nichts. Besonders frappant im Grenzgebiet zu Afghanistan. Erklärung: die radikalislamischen Taliban greifen regelmäßig Impfteams an, weil Letztere verdächtigt werden, für die USA zu spionieren und mit den Impfungen versuchen würden, Muslime unfruchtbar zu machen.

Dort die Taliban. Hier der Balkan. Geschichte wiederholt sich. Brunnenvergifter.

Diese Herleitungen verschwinden nicht aus den Online-Medien. Auch klar, warum.

Die Reaktion der pakistanischen Regierung ist eine andere als die der unseren. Sie geht her und lässt 500 Männer in der nordwestpakistanischen Stadt Peshawar und drei umliegenden Distrikten verhaften, weil sie ihre Kinder nicht hätten impfen lassen.

Die zuständige Gesundheitsministerin Saira Tarar kündigte an, Impfverweigerung werde künftig nicht mehr toleriert.

In unseren Breiten braucht es wohl mehrere tote Kinder, unzählige Blabla-Shows a la Im Zentrum, ehe irgendetwas geschieht und erkannt wird, dass die Gesundheit der Bevölkerung von ignoranten Verweigerern fahrlässig gefährdet wird. Zeitbomben, die auch in den USA immer lauter ticken. Wohlstandsphänomen.

Nicht dass der drastische pakistanische Weg Vorbild sein sollte, aber jedenfalls erkennen die dort, dass der Hut brennt, und reagieren.

Eine rasche Reaktion unserer Politik ist dringend vonnöten, auch wenn sich die anscheinend großteils gebildet-bürgerliche Schicht samt ihrer sie alternativ betreuende Ärzteschaft in ihrem Selbstverwirklichungsmantra und ihrer mitunter zur Religion erhobenen Eigenverantwortlichkeit bedroht fühlt. Ich rede hier keineswegs von Verhaftungen, bitte. Es gibt auch andere motivierende Maßnahmen.

Selbstbestimmung hat dann ihre Grenzen, wenn sie das Leben anderer in Gefahr bringt. Punkt.